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Blutgerinnungsstörungen bei Frauen werden selten und oft erst spät diagnostiziert.

Story

Von der bekanntesten der erblich bedingten Gerinnungsstörungen, der Hämophilie, sind in der Regel nur Männer betroffen. Andere Blutgerinnungsstörungen kommen bei Frauen aber ähnlich häufig vor wie bei Männern. Noch immer werden diese bei Frauen viel zu selten und oft erst sehr spät diagnostiziert. Das sogenannte „von-Willebrand-Syndrom“ (vWS) ist eine genetisch disponierte Störung der Blutgerinnung, die 1926 von Professor Erik Adolf von Willebrand erstmalig als Erkrankung erkannt wurde. Prof. von Willebrand behandelte eine junge Patientin mit ausgeprägter Blutungsneigung, die nur vier Monate nach ihrer Menarche verblutete. Heutzutage können selbst Patienten mit einem schweren vWS ein langes und gutes Leben führen; Grundvoraussetzung ist eine rechtzeitige Diagnosestellung und ein frühzeitiger Therapiebeginn.

Die ersten Anzeichen der Erkrankung scheinen harmlos: Häufiges Nasenbluten, Neigung zu blauen Flecken (Hämatome) und Wundheilungsstörungen. In Deutschland leiden rund 800.000 Menschen an dem vWS. Frauen und Männern sind prozentual gleich häufig von der Blutgerinnungsstörung betroffen; Intensität und Ausprägung sind jedoch geschlechtsspezifisch unterschiedlich. Mit Eintritt in die Pubertät stellen sich bei betroffenen jungen Frauen auffällig starke Regelblutungen mit enormen Blutverlusten ein. Heranwachsende Kinder leiden (aufgrund von Einblutungen) unter schmerzenden und verformten Gelenken – bei kleinsten Verletzungen sind die Blutungen nicht aufzuhalten. Noch immer sind es vor allem Frauen, die besonders unter den Symptomen des vWS leiden. Das häufigste Symptom von Frauen mit Gerinnungsstörungen: Immer wieder schmerzhafte Regelblutungen, die mit einem großen Blutverlust einhergehen und oft länger als eine Woche andauern. Noch bis vor wenigen Jahren wurde dafür der Begriff „Menorrhagie“ (gr. „Menos“ Monat und „rhegnynai“ zerreissen, platzen) verwendet. International und in der medizinischen Wissenschaftsliteratur gilt der Begriff „Menorraghie“ seit etwa einem Jahrzehnt als überholt.

Für starke Regelblutungen wird aktuell der Begriff „Heavy Menstrual Bleeding“ (HMB) verwendet. HMB wird aus Sicht der Patientinnen definiert als „Übermäßiger Menstruationsblutverlust, der die körperliche, soziale, emotionale und/oder materielle Lebensqualität einer Frau beeinträchtigt“. Aus der Sicht von Ärzten und Wissenschaftlern wird HMB definiert als „exzessiver Blutverlust ≥ 80ml/Zyklus“.

Gerinnungsstörung und Blutungsneigung

Das vWS ist die häufigste erblich bedingte Blutgerinnungsstörung überhaupt, die zu HMB führt. Die folgende Tabelle beschreibt die sieben bekannten Formen des vWS:

Typen VWF-Mangel

Typ 3 (nahezu vollständiger Mangel an VWF) ist die mit Abstand schwerste Form des vWS. Um sich vor Blutverlusten und Einblutungen schützen zu können, verfügt der Körper über die Fähigkeit, Blutungen zum Stillstand zu bringen. Diese Fähigkeit wird auch mit dem Begriff “Hämostase” bezeichnet; der dazugehörige Fachbereich der Medizin mit dem Begriff “Hämastaseologie”. Das Blut ist eine derart komplexe Flüssigkeit, dass es von vielen Ärzten und Wissenschaftlern auch als “flüssiges Organ” oder als “flüssiges Gewebe” bezeichnet wird. Im gesunden Blut sind neben den Gerinnungsfaktoren auch Bestandteile enthalten, die die Blutgerinnung aufhalten und kontrollieren. Schließlich darf das Blut weder zu wenig noch zu stark gerinnen. Gerinnt es zu wenig, wird der Blutverlust zu groß, gerinnt es zu stark, kommt es zu lebensgefährlichen Gefäßverstopfungen durch Thromben. Um sich vor zu starker Blutgerinnung zu schützen, hat der Körper Methoden entwickelt, mit denen er Thromben wieder auflösen kann. Dazu nutzt er ein Enzym namens Plasmin, welches viele der im Blut enthaltenen Eiweiße aufzuspalten vermag. Der Vorgang der körpereigenen Blutgerinnselauflösung wird auch als “Fibrinolyse” bezeichnet. Störungen der Blutgerinnung, bei denen das Blut zu wenig gerinnt, werden als Blutungsneigung definiert; die entgegengesetzten Gerinnungsstörungen, bei denen das Blut zu stark gerinnt, als “Pluskoagulopathien”. 

Der von-Willebrand-Faktor (vWF)

Das vWS ist durch das geringere Vorkommen, das Fehlen oder die Beschädigung eines bestimmten Eiweißstoffes im Blut charakterisiert, dem sog. nach Dr. Erik Adolph von Willebrand benannten von-Willebrand-Faktor (vWF). Der vWF wird sowohl im Knochenmark als auch in den Innenwänden der Blutgefäße hergestellt und erfüllt zwei wichtige Funktionen der Hämostase: Zum einen bei Wundverschluss nach Verletzungen, indem der Faktor sozusagen Brücken zwischen den Blutplättchen und der verletzten Gefäßwand baut, zum anderen ist der vWF ein Trägerprotein für den Blutgerinnungsfaktor VIII und unterstützt somit die Bildung von Thromben.

Weitere Blutungsneigungen, die zu HMB führen

Die zweithäufigste Blutungsneigung bei Frauen nach dem vWS ist die Hämophilie. Aufgrund der Vererbungslehre, erkranken Frauen nur äußerst selten an einer Hämophilie, können aber “Konduktorinnen” (Überträgerinnen) der Hämophilie sein. Studien zeigen, dass Hämophilie-Konduktorinnen deutlich weniger Gerinnungsfaktor im Blut aufweisen als Nicht-Konduktorinnen und daher auch häufig unter HMB leiden.

Weitere erwähnenswerte Erkrankungen mit erhöhter Blutungsneigung bei Frauen sind die sog. Blutplättchen-Funktionsstörungen und seltene Faktormangelerkrankungen. Diese sollen aber wegen ihrer Seltenheit und um den Rahmen des Artikels nicht zu sprengen, hier nicht ausführlicher besprochen werden. Frauen mit Blutungsneigung leiden häufiger unter HMB – und unter den Patientinnen mit HMB befinden sich überdurchschnittlich häufig Frauen, die unter einer Blutungsneigung leiden.

Häufigkeiten von HMB bei Frauen mit Blutungsneigungen in verschiedenen Studien

Patienten- und Ärztebefragungen aus den USA zeigen, dass zumindest dort bis vor etwa 15 Jahren die Diagnose “Blutungsneigung” bei Frauen mit HMB viel zu selten und viel zu spät gestellt wurde.  

  • In einer US-amerikanischen Studie zeigt sich, dass nur 4 % der Ärzte eine Blutungsneigung als mögliche Ursache von HMB in Betracht zogen.
  • In der gleichen Studie erklärten nur 3 % der Ärzte, dass sie eine Frau mit HMB an einen Experten überwiesen hätten. (Diley et al 2001).    
  • In einer US-amerikanischen Studie zeigt sich, dass es bei Frauen mit einem vWS im Durchschnitt 16 Jahre von den ersten Symptomen bis zur richtigen Diagnose gedauert hatte - bei einer Frau hatte es sogar 39 Jahre gedauert (Kirtava et al 2004).

BlutungsneigungDie daraus resultierende Fehl- und Unterversorgung von Frauen mit Blutungsneigung und HMB haben für die Betroffenen oft schwerwiegende Folgen: HMB stellt nach wie vor die Hauptbegründung für die ca. 300.000 Gebärmutterentfernungen/Hysterektomien (gr. “hystera” “Gebärmutter” und “ektome” “abschneiden”) in den USA pro Jahr dar. Wären nur 21 % dieser Frauen in einem spezialisierten Gerinnungszentrum behandelt worden, („nur“ 21 %, weil ja immerhin vier Prozent der Ärzte richtig diagnostizieren), macht dies mindestens 63.000 überflüssige Gebärmutterentfernungen in den USA pro Jahr aus. Die Gebärmutter ist aus den verschiedensten Gründen ein für jede Frau wichtiges Organ, das nicht nur der Fortpflanzung dient. Eine radikale Operation stellt immer eine körperliche und seelische Belastung dar.

Therapieansätze

Für Frauen mit diagnostizierter HMB stehen verschiedene Behandlungsmöglichkeiten bei Blutungsneigung zur Verfügung. Zunächst einmal sollte die Patientin grundsätzlich auf einen Eisenmangel untersucht werden. Nur wenn ein diagnostizierter Mangel vorliegt, sollten Eisenpräparate verordnet werden.

Die erste Behandlungsmethode der Wahl, die sogenannte Erstlinientherapie, ist die Tranexamsäure (TXA). TXA hemmt die Fibrinolyse und sorgt somit für eine stärkere Blutgerinnung. Wenn TXA therapeutisch nicht ausreicht, sollte spätestens mit der nächsten Regelblutung durch die Zweitlinientherapie bei HMB und Blutungsneigung, „Desmopressin“ eingesetzt werden. Desmopressin wirkt dadurch, dass es die Freisetzung des vWF und somit die Blutgerinnung fördert. Desmopressin wirkt nicht bei Frauen mit den vWS-Typen 2a und b und 3 und sollte daher bei diesen Patientinnen nicht eingesetzt werden. Grundsätzlich sollte krankheitsspezifisch mit Gerinnungsfaktoren aus Blutplasma behandelt werden. Ist der von-Willebrand-Faktor fehlerhaft ausgebildet (verschiedene Varianten des Typ 2) oder fehlt er völlig (Typ 3), erhalten die Patienten ein Präparat mit einer standardisierten Konzentration an von-Willebrand-Faktor sowie dem Blutgerinnungsfaktor VIII.

Hormonbehandlung von HMB

Je jünger die Patientin zu Beginn einer Hormontherapie ist, desto länger ist sie potentiell den Risiken einer Hormontherapie ausgesetzt. Dazu gehören eine veränderte Gehirnstruktur, ein erhöhtes Risiko für Depressionen und eine verringerte Libido, um nur die häufigsten zu nennen. In unserer klinischen Praxis empfehlen wir daher eine Hormontherapie frühestens zwei Jahre nach der Menarche.

Naturheilverfahren bei HMB

Für die Frauen, die Naturheilverfahren bevorzugen, weder Antikoagulantien noch Hormonpräparate nutzen und nicht stillen, gibt es auch die Möglichkeit, vor dem Einsatz von Tranexamsäure, eine pflanzliche Therapie mit Mönchspfeffer (Vitex Agnus Castus - VAC) anzubieten. Mönchspfeffer wird seit Jahrhunderten zur Behandlung von Menstruationsbeschwerden eingesetzt. Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten wurden bisher nicht nachgewiesen. Zwei jüngere iranische Studien mit insgesamt 150 Frauen konnten zeigen, dass HMB durch VAC deutlich verringert wird.

Chirurgische Behandlungsmöglichkeiten von HMB

Die chirurgische Behandlung von HMB sollte erst dann in Betracht gezogen werden, wenn alle bisher besprochenen Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft worden sind. Die chirurgische Erstlinientherapie ist die sogenannte Endometriumablation. Dabei wird die Gebärmutterschleimhaut zerstört bzw. entfernt und somit auch die Fruchtbarkeit der Frau. Heute stehen relativ schonende und sichere Verfahren zu Verfügung. Eine Hysterektomie sollte erst dann in Anbetracht gezogen werden, wenn auch die Endometriumablation keine Besserung der HMB bewirkt hat.

MyFow Score AppDie My-Flow-Score-App

HMB kann ein Symptom einer behandlungsbedürftigen Minuskoagulopathie sein. Die Einschätzung, ob Stärke und Dauer der Regelblutung „normal“ sind, fällt den meisten Frauen schwer. Um diese Frauen zu unterstützen und damit Blutungsneigungen möglichst frühzeitig erkannt und nicht mehr übersehen werden, haben wir zusammen mit der Firma CSL Behring die kostenlose App “My- Flow-Score” entwickelt. Die App basiert auf wissenschaftlich überprüften Methoden, mit denen Frauen die Stärke und die Dauer ihrer Regelblutungen selbst bewerten können. Wenn alle Daten eingetragen werden, berechnet die App einen Score. Überschreitet dieser Score den Wert 100, könnte eine Minuskoagulopathie die Ursache für die HMB sein. Den Frauen wird dann von der App empfohlen, sich an einen Facharzt zu wenden.

Behandlung von Frauen mit HMB bei Blutungsneigung im Gerinnungszentrum Rhein-Ruhr (GZRR)

HMB lässt sich zwar sehr gut behandeln, liegt jedoch eine Hämophilie oder das von-Willebrand-
Syndrom zugrunde, so wird die Erkrankung die Patientin ihr Leben lang begleiten. Für eine nachhaltig erfolgreiche Behandlung von chronischen Erkrankungen wie der Blutungsneigung braucht es eine gute Zusammenarbeit zwischen Ärzten und medizinischem Fachpersonal auf der einen und dem Patienten auf der anderen Seite. Gegenseitiges Vertrauen ist dabei unverzichtbar. Daher legen wir im GZRR großen Wert darauf, Frauen mit HMB bei Blutungsneigung nach dem aktuellen wissenschaftlichen Stand ganzheitlich, dabei aber einfühlsam und engagiert, zu behandeln. Zur Behandlung von Frauen mit Blutungsneigung gehören im GZRR komplexe Leistungen, die nur durch ein interdisziplinäres Team innerhalb des Gerinnungszentrums bzw. durch enge Kooperationen zwischen den Behandlern erbracht werden können:

  • Optimale Versorgung der Patienten mit Gerinnungsfaktoren im Rahmen der Heimselbstbehandlung. Die Versorgung mit Gerinnungsfaktoren erfolgt auch bei stationärer Behandlung der Patienten durch das GZRR.
  • Kontinuierliche und fachübergreifende Betreuung.
  • Therapiekontrolle und -sicherung.
  • Fachlabor zur zügigen Durchführung von hämostaseologischer Spezialanalytik.
  • Regelmäßige Kontrolle der Dokumentation der Heimselbstbehandlung.
  • Erstellung eines Therapieplans, der regelmäßig überprüft und im Bedarfsfall an neue Gegebenheiten angepasst wird.
  • Koordination der im individuellen Therapieplan definierten notwendigen Leistungen.
  • Enge Kooperation mit anderen Leistungserbringern.

 

Weitere Informationen

Dr. med. Susanne Halimeh
Gerinnungszentrum Rhein-Ruhr
Königstraße 13
D-47051 Duisburg-Altstadt
Tel.: +49 203 3483360
www.gzrr.de

Deutsche Hämophiliegesellschaft
Neumann-Reichardt-Str. 34
D-22041 Hamburg
Tel.: +49 40 672 29 70
www.dhg.de

Interessengemeinschaft Hämophiler e.V.
Remmingsheimer Str. 3
D-72108 Rottenburg am Neckar
Tel.: +49 7472 22648
www.igh.info

Berufsverband der Deutschen
Hämostaseologen e.V. (BDDH)
Strümpellstrasse 40
D-04289 Leipzig
Tel.: +49 341 6565745
www.bddh.org

CSL Behring GmbH
Philipp-Reis-Straße 2
D-65795 Hattersheim
www.cslbehring.de
www.vonwillebrand.de
www.netzwerk-von-willebrand.de

Quelle: Dieser Beitrag ist erschienen in „Forum Sanitas“ – Das informative Medizinmagazin, 3. Ausgabe 2019. Die Autorin, Frau Dr. Halimeh, spendet ihr Autorenhonorar der "Deutschen Bluthilfe e.V."